Wertewandel brutal unterdrückt
ORF.at, 11.11.2015
Der Bürgerkrieg in Syrien hat als „kulturelle Revolte“ begonnen, die
„brutal niedergeschlagen wurde“. Das sagt der in Damaskus geborene
Philosoph Sadiq al-Azm im Gespräch mit ORF.at über die Anfänge des
„arabischen Frühlings“ in dem Land. „Niemand ist wegen Hungersnot in
Syrien auf die Straße gegangen.“ Aus dem Exil setzt sich Azm mit seiner
Frau für eine demokratische Opposition im Land ein.
Die Baath-Partei von Diktator Baschar al-Assad, die Terrormiliz
Islamischer Staat (IS), die Freie Syrische Armee (FSA), die USA und
Russland – Syrien ist zu einem weltpolitischen Territorium mit vielen
Akteuren geworden. Dabei habe alles ganz anders angefangen, sagte Azm am
Dienstag im Zuge einer Veranstaltung des Instituts für die Wissenschaft
vom Menschen (IWM) in Wien. Schon mit dem „Damaszener Frühling“ 2002
habe ausgerechnet Syrien den Weg für den „arabischen Frühling“, der neun
Jahre später die gesamte Region erfasste, geebnet.
Generalprobe für „arabischen Frühling“
Nachdem der junge Assad 2000 an die Macht gekommen war, forderte die
intellektuelle Elite in Damaskus mehr Demokratie. Assadas Vater, der
Diktator Hafes al-Assad, hatte das Land fast 30 Jahre regiert und
jeglichen politische Aufstand unter seiner Regentschaft unterdrückt.
Nach seinem Tod folgte zum ersten Mal in der arabischen Geschichte in
einer Republik der Sohn seinem Vater als Präsident.
Das rief Intellektuelle wie Azm im ganzen Land auf den Plan: Nur wenige
Jahre später verfassten sie das „Manifest der 99“, es basiert auf
Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit. Sie forderten
soziale Gerechtigkeit und einen kulturellen Wandel. „Der Damaszener
Frühling war definitiv die Generalprobe für den darauffolgenden
arabischen Frühling, der die gesamte Region in und um die Arabische
Halbinsel erfasst hat“, sagt Azm.
Kein Kurswechsel 2002
Zu dieser Zeit habe es noch die Hoffnung gegeben, dass man Assad dazu
bringen könne, mit der Bürgerrechtsbewegung zu sprechen und zu
verhandeln, so der Philosoph. Assad folgte jedoch der politischen Linie
seines Vaters – die Versuche, 2002 einen demokratischen Wandel
herbeizuführen, wurden von ihm schon bald darauf unterdrückt und viele
der führenden Intellektuellen verhaftet.
„Wenn Assad damals nicht die Augen verschlossen und mit der politischen
Bewegung verhandelt hätte, wäre Syrien heute nicht da, wo es jetzt ist“,
sagt der Philosoph. Die neuen Bürgerproteste 2011 mündeten dann in
einen Krieg, der nun seit viereinhalb Jahren andauert.
Politischer Hoffnungsschimmer
Jetzt gibt es erste Bemühungen, bei denen alle Groß- und Regionalmächte
an einem Tisch sitzen. Am Wochenende treffen sich die Außenminister
Russlands, der USA und der Regionalmächte in Wien zur vierten
Gesprächsrunde, um über eine mögliche Friedenslösung für Syrien zu
diskutieren. Vertreter des Assad-Regimes und der syrischen Opposition
werden nicht dabei sein, sagte US-Außenministeriumssprecher John Kirby
am Montag in Washington.
Erstmals soll aber eine Liste der legitimen Oppositionsgruppen erstellt
werden, die Gesprächspartner für Assad werden können. Das Ziel sei es
auch, bei den Gesprächen ein gemeinsames Vorgehen gegen Terrorgruppen
wie den IS und die Al-Kaida nahestehende Al-Nusra-Front zu organisieren.
Verfechter eines „säkularen“ Islam
Azm, 1934 in Damaskus geboren, zählt zu den bekanntesten Philosophen der
arabischen Welt. Er setzt sich für einen demokratischen und
säkularisierten Islam ein, viele seiner Bücher sind in vielen arabischen
Ländern verboten. Er unterrichtete unter anderem an der Universität von
Damaskus, der Universität Princeton und der Humboldt-Universität
Berlin.
2001 war er einer der Erstunterzeichner der „Erklärung der Tausend“ und
des „Manifests der 99“, zweier Manifeste für demokratische Wahlen,
Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung in Syrien. Er publizierte
zahlreiche Bücher, darunter „Kritik des religiösen Denkens“ und
„Unbehagen in der Moderne – Aufklärung im Islam“.
Problematische Rolle des Westens
„Die Friedensbestrebungen und diplomatischen Gespräche sind – gerade was
die US-Politik angeht – gekennzeichnet von einer konstruktiven
Vieldeutigkeit“, sagt Azm. „Die Großmächte wissen genau, wie sie die
terroristische Gefahr einschätzen müssen, und (US-Präsident Barack Anm.)
Obama lässt Syrien gerade ausbluten.“
Diese Realpolitik des US-Präsidenten gehe nach hinten los, glaubt Azm.
Sie erzeuge Wut bei den Menschen - und damit die Stimmung, in der sich
terroristische Organisationen wie der IS und die Al-Nusra-Front in
größerem Ausmaß formieren können. „Der Terrorismus ist kein syrisches
Phänomen, sondern ein Import“, so Azm. Obama verfolge eine „Politik des
Improvisierens“, wie schon im Palästinenserkonflikt könne es auch in der
Syrien-Frage eine Resolution geben, die zwar von den Großmächten
akzeptiert, aber nie in die Tat umgesetzt werde, sagt der Philosoph.
„Syrien-Konflikt ist kein Bürgerkrieg“
Trotz der anlaufenden politischen Lösungsversuche forderte der
Syrien-Krieg bisher über 250.000 Menschenleben, mehr als 4,2 Millionen
Syrer befinden sich auf der Flucht, sieben Millionen wurden innerhalb
des Landes vertrieben. Der Syrien-Konflikt werde oft fälschlicherweise
als Bürgerkrieg bezeichnet, so Azm.
„Der Syrien-Konflikt ist kein Bürgerkrieg.“ Hier hätten sich weder die
Sunniten noch die Schiiten oder andere religiöse Gruppen wie die Drusen
vereint, um gegeneinander zu kämpfen. „Der Syrien-Krieg hat damit
angefangen, dass ein Regime seine eigene Bevölkerung bekämpft hat.“ Azm
vergleicht den Beginn der Revolte mit den Aufständen in Ungarn gegen die
Sowjets 1956, „auch hier haben die Ungarn nicht gegeneinander gekämpft
sondern gegen das politische System“.
Der „arabische Frühling“ in Syrien 2011 sei von jungen, gut
ausgebildeten Ärzten, Anwälten, Ingenieuren und Professoren angeführt
worden. Diese seien daraufhin entweder umgebracht oder verhaftet worden,
so Azm. „Die dadurch wachsende Enttäuschung bei der zweiten Welle von
Demonstranten führte dann auch zur Militarisierung des Konflikts.“ Die
Revolte sei am Anfang aber vor allem eines gewesen, so der Philosoph:
eine friedlich Protestbewegung.
Weiterführende Links:
Deutschland, Syrien und die Flüchtlinge (Video)
3sat Mediathek vom 7.9.2015
Jeder zweite Syrer ist auf der Flucht. Weil er es in seiner Heimat nicht
mehr aushält. Zerstörung, Tod, Hoffnungslosigkeit. Und eine Lösung des
Konflikts ist nicht in Sicht.
Der Denker Sadik al-Azm im Gespräch
Kein mittlerer Weg für den Islam
NZZ, 17.9.2015
Sadik al-Azm ist einer der profiliertesten progressiven Denker der
arabischen Welt. Seit langem beobachtet er die islamistischen
Strömungen; Christian H. Meier hat ihn zu seinen Einsichten befragt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen