Donnerstag, 12. November 2015

Syrischer Philosoph al-Azm: Obama lässt Syrien ausbluten

Wertewandel brutal unterdrückt
ORF.at, 11.11.2015
Der Bürgerkrieg in Syrien hat als „kulturelle Revolte“ begonnen, die „brutal niedergeschlagen wurde“. Das sagt der in Damaskus geborene Philosoph Sadiq al-Azm im Gespräch mit ORF.at über die Anfänge des „arabischen Frühlings“ in dem Land. „Niemand ist wegen Hungersnot in Syrien auf die Straße gegangen.“ Aus dem Exil setzt sich Azm mit seiner Frau für eine demokratische Opposition im Land ein.

Die Baath-Partei von Diktator Baschar al-Assad, die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die Freie Syrische Armee (FSA), die USA und Russland – Syrien ist zu einem weltpolitischen Territorium mit vielen Akteuren geworden. Dabei habe alles ganz anders angefangen, sagte Azm am Dienstag im Zuge einer Veranstaltung des Instituts für die Wissenschaft vom Menschen (IWM) in Wien. Schon mit dem „Damaszener Frühling“ 2002 habe ausgerechnet Syrien den Weg für den „arabischen Frühling“, der neun Jahre später die gesamte Region erfasste, geebnet.

Generalprobe für „arabischen Frühling“
Nachdem der junge Assad 2000 an die Macht gekommen war, forderte die intellektuelle Elite in Damaskus mehr Demokratie. Assadas Vater, der Diktator Hafes al-Assad, hatte das Land fast 30 Jahre regiert und jeglichen politische Aufstand unter seiner Regentschaft unterdrückt. Nach seinem Tod folgte zum ersten Mal in der arabischen Geschichte in einer Republik der Sohn seinem Vater als Präsident.

Das rief Intellektuelle wie Azm im ganzen Land auf den Plan: Nur wenige Jahre später verfassten sie das „Manifest der 99“, es basiert auf Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit. Sie forderten soziale Gerechtigkeit und einen kulturellen Wandel. „Der Damaszener Frühling war definitiv die Generalprobe für den darauffolgenden arabischen Frühling, der die gesamte Region in und um die Arabische Halbinsel erfasst hat“, sagt Azm.

Kein Kurswechsel 2002
Zu dieser Zeit habe es noch die Hoffnung gegeben, dass man Assad dazu bringen könne, mit der Bürgerrechtsbewegung zu sprechen und zu verhandeln, so der Philosoph. Assad folgte jedoch der politischen Linie seines Vaters – die Versuche, 2002 einen demokratischen Wandel herbeizuführen, wurden von ihm schon bald darauf unterdrückt und viele der führenden Intellektuellen verhaftet.

„Wenn Assad damals nicht die Augen verschlossen und mit der politischen Bewegung verhandelt hätte, wäre Syrien heute nicht da, wo es jetzt ist“, sagt der Philosoph. Die neuen Bürgerproteste 2011 mündeten dann in einen Krieg, der nun seit viereinhalb Jahren andauert.

Politischer Hoffnungsschimmer
Jetzt gibt es erste Bemühungen, bei denen alle Groß- und Regionalmächte an einem Tisch sitzen. Am Wochenende treffen sich die Außenminister Russlands, der USA und der Regionalmächte in Wien zur vierten Gesprächsrunde, um über eine mögliche Friedenslösung für Syrien zu diskutieren. Vertreter des Assad-Regimes und der syrischen Opposition werden nicht dabei sein, sagte US-Außenministeriumssprecher John Kirby am Montag in Washington.

Erstmals soll aber eine Liste der legitimen Oppositionsgruppen erstellt werden, die Gesprächspartner für Assad werden können. Das Ziel sei es auch, bei den Gesprächen ein gemeinsames Vorgehen gegen Terrorgruppen wie den IS und die Al-Kaida nahestehende Al-Nusra-Front zu organisieren.

Verfechter eines „säkularen“ Islam
Azm, 1934 in Damaskus geboren, zählt zu den bekanntesten Philosophen der arabischen Welt. Er setzt sich für einen demokratischen und säkularisierten Islam ein, viele seiner Bücher sind in vielen arabischen Ländern verboten. Er unterrichtete unter anderem an der Universität von Damaskus, der Universität Princeton und der Humboldt-Universität Berlin.

2001 war er einer der Erstunterzeichner der „Erklärung der Tausend“ und des „Manifests der 99“, zweier Manifeste für demokratische Wahlen, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung in Syrien. Er publizierte zahlreiche Bücher, darunter „Kritik des religiösen Denkens“ und „Unbehagen in der Moderne – Aufklärung im Islam“.

Problematische Rolle des Westens
„Die Friedensbestrebungen und diplomatischen Gespräche sind – gerade was die US-Politik angeht – gekennzeichnet von einer konstruktiven Vieldeutigkeit“, sagt Azm. „Die Großmächte wissen genau, wie sie die terroristische Gefahr einschätzen müssen, und (US-Präsident Barack Anm.) Obama lässt Syrien gerade ausbluten.“

Diese Realpolitik des US-Präsidenten gehe nach hinten los, glaubt Azm. Sie erzeuge Wut bei den Menschen - und damit die Stimmung, in der sich terroristische Organisationen wie der IS und die Al-Nusra-Front in größerem Ausmaß formieren können. „Der Terrorismus ist kein syrisches Phänomen, sondern ein Import“, so Azm. Obama verfolge eine „Politik des Improvisierens“, wie schon im Palästinenserkonflikt könne es auch in der Syrien-Frage eine Resolution geben, die zwar von den Großmächten akzeptiert, aber nie in die Tat umgesetzt werde, sagt der Philosoph.

„Syrien-Konflikt ist kein Bürgerkrieg“
Trotz der anlaufenden politischen Lösungsversuche forderte der Syrien-Krieg bisher über 250.000 Menschenleben, mehr als 4,2 Millionen Syrer befinden sich auf der Flucht, sieben Millionen wurden innerhalb des Landes vertrieben. Der Syrien-Konflikt werde oft fälschlicherweise als Bürgerkrieg bezeichnet, so Azm.

„Der Syrien-Konflikt ist kein Bürgerkrieg.“ Hier hätten sich weder die Sunniten noch die Schiiten oder andere religiöse Gruppen wie die Drusen vereint, um gegeneinander zu kämpfen. „Der Syrien-Krieg hat damit angefangen, dass ein Regime seine eigene Bevölkerung bekämpft hat.“ Azm vergleicht den Beginn der Revolte mit den Aufständen in Ungarn gegen die Sowjets 1956, „auch hier haben die Ungarn nicht gegeneinander gekämpft sondern gegen das politische System“.

Der „arabische Frühling“ in Syrien 2011 sei von jungen, gut ausgebildeten Ärzten, Anwälten, Ingenieuren und Professoren angeführt worden. Diese seien daraufhin entweder umgebracht oder verhaftet worden, so Azm. „Die dadurch wachsende Enttäuschung bei der zweiten Welle von Demonstranten führte dann auch zur Militarisierung des Konflikts.“ Die Revolte sei am Anfang aber vor allem eines gewesen, so der Philosoph: eine friedlich Protestbewegung.

Weiterführende Links:

Deutschland, Syrien und die Flüchtlinge (Video)
3sat Mediathek vom 7.9.2015
Jeder zweite Syrer ist auf der Flucht. Weil er es in seiner Heimat nicht mehr aushält. Zerstörung, Tod, Hoffnungslosigkeit. Und eine Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht.


Der Denker Sadik al-Azm im Gespräch
Kein mittlerer Weg für den Islam
NZZ, 17.9.2015
Sadik al-Azm ist einer der profiliertesten progressiven Denker der arabischen Welt. Seit langem beobachtet er die islamistischen Strömungen; Christian H. Meier hat ihn zu seinen Einsichten befragt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen